Dr. Weeß, Sie sind seit über 30 Jahren in der Schlafforschung tätig, und leiten seit über 25 Jahren das interdisziplinäre Schlafzentrum des Pfalzklinikums. Welche bedeutenden Fortschritte gab es in den letzten Jahrzenten in der Schlafmedizin, die das Verständnis des Schlafs und seiner Auswirkungen auf die Gesundheit verändert haben?

Dr. Weeß: Da hat sich unheimlich viel getan in den letzten Jahren. Schlaf ist immer noch eine Blackbox und wir können die Funktion und Bedeutung des Schlafes nur in Ansätzen beschreiben, aber wir konnten in den vergangenen Jahrzehnten auch viel Licht ins Dunkel bringen. Jeder Mensch macht die Erfahrung: Schlaf macht wach. Wir sind ansonsten eingeschränkt in unserem Leistungsvermögen, die Unfallgefahr steigt und die Gedächtnisleistung sinkt, wir sind außerdem auch weniger produktiv und somit ist Schlaf auch Karrierefaktor. Im gesundheitlichen Zusammenhang betrachtet: Schlaf stärkt wissenschaftlich bewiesen das Immunsystem. Denn im Schlaf wird die Funktion der T-Zellen gestärkt und wenn diese in Ihrer Funktion beeinträchtigt sind, wird das Immunsystem geschwächt. Bereits eine Nacht mit unzureichendem Schlaf kann das Immunsystem schwächen. Beispielsweise haben dann Erkältungskrankheiten leichtere Chancen. Nach einer Impfung ist ausreichender Schlaf in den Folgenächten von besonderer Bedeutung. Bei zu wenig Schlaf haben sich ca. vier Wochen später deutlich weniger Antikörper gebildet. Chronischer Schlafmangel kann auch zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson führen. Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen, wie z.B. Diabetes sind häufiger und auch psychische Störungen werden begünstigt. Ein- und Durchschlafstörengen, Imsomnie begünstigen Depressionen und Angststörungen. Gerade Depressionen sind ein häufiger Grund für lange Krankschreibungen oder Frühberentungen. In dem Zusammenhang bekommt der Schlaf eine weitere Bedeutung. Er wird zum wirtschaftlichen Faktor und auch für das betriebliche Gesundheitsmanagement relevant. Ich durfte im Jahr 2019 als Experte den Gesundheitsreport der Barmer Krankenkasse wissenschaftlich begleiten, an dem 4 Millionen Versicherte untersucht wurden. Ein wichtiges Ergebnis war, dass Menschen mit Erkrankungen welcher Art auch immer und begleitenden Schlafstörungen 2,8-mal länger krankgeschrieben sind, als Menschen ohne begleitende Schlafstörungen zu Ihren Grunderkrankungen.

Inwiefern hat die Digitalisierung/ KI und die Verwendung von Schlaf-Tracking-Technologien unsere Fähigkeit verbessert, den Schlaf zu überwachen und Schlafstörungen zu diagnostizieren?

Dr. Weeß: Es ist einerseits von Vorteil, dass Sleeptracker in Smartphones integriert sind. Das schafft Aufmerksamkeit und Bewusstsein für das wichtige Thema Schlaf und sensibilisiert vor allem junge Menschen. Andererseits gaukeln diese Sleeptracker aber auch eine Sicherheit und Messgenauigkeit vor, die sie tatsächlich nicht haben. Sie sind sehr fehlerbehaftet, denn sie basieren überwiegend auf der Analyse von Puls- und Bewegungsmustern. Insbesondere der Anteil der einzelnen Schlafstadien wird ungenau erfasst und führt sehr häufig zu Verunsicherungen bei den Nutzern. Valide Aussagen sind so nicht möglich. Ich bekomme immer wieder aufgeregte Anfragen von Menschen, weil deren Sleeptracker aufgrund der eingeschränkten Messtechnik keinen Tief- oder Traumschlaf feststellen konnte. Weiterhin führen die Sleeptracker zu einer verstärkten Selbstbeobachtung des eigenen Schlafvermögens. Dies kann eine schlafverhindernde Anspannung auslösen und in der Folge bestehende Schlafstörungen deutlich verstärken. Vielen meiner Patienten empfehle ich aus diesem Grunde auf die Nutzung von Sleeptrackern gänzlich zu verzichten.

Welche innovativen Therapieansätze und Medikamente wurden entwickelt, um Schlafstörungen zu behandeln? Welche Vor- und Nachteile haben sie im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungsmethoden?

Dr. Weeß: Es gibt neue Schlafmittel, welche im Vergleich zu herkömmlichen Schlafmitteln ein geringeres Abhängigkeitspotenzial aufweisen. Das ist insbesondere bei der Behandlung von chronischen Insomnien ein deutlicher Fortschritt. Es gibt auch Behandlungsansätze mittels selbstwirksamer kognitiver Verhaltenstherapeutischer Techniken, welche speziell für ein- und Durchschlafstörungen entwickelt wurden. Diese werden auch in Form von rezeptierbaren Online-Programmen angeboten. Dies ist ein größer Vorteil für die flächendeckende Behandlung, da es bislang nicht genügend Therapeuten und Ärzte gibt, welche diese hochwirksamen Methoden anbieten. Beispielhaft seien das Somnio Schlaftraining von mementor oder der Online Kurs von HelloBetter genannt.

Bei den schlafbezogenen Atmungsstörungen, der Schlafapnoe, gibt es neue chirurgische Verfahren. Die Hypoglossus-Stimulation wird wirksam bei Patienten eingesetzt, welche auf herkömmliche nächtliche Ventilationstherapien nicht ansprechen oder mit dieser nicht zurechtkommen. Auch neue Hilfsmittel zur Lagepositionstherapie sind auf dem Markt, welche helfen, dass Patienten, welche ausschließlich in Rückenlage Atemstillstände aufweisen, dass diese während des Schlafes vermieden wird.

Gibt es neue Erkenntnisse über die Rolle von Träumen oder liegt der Bereich des Träumens nicht in der Schlafmedizin?

Dr. Weeß: Die Traumforschung und die Behandlung von Menschen mit Albträumen und ähnlichen Schlafstörungen nimmt eine wichtige Rolle in der Schlafmedizin ein. Alpträume können auch aufgrund des starken Leidensdruck der Patienten eine ernste schlafmedizinische Erkrankung darstellen. Viele Patienten kommen zu mir, weil sie Angst vor den Schrecken haben, die sie nachts erleben. Aber auch hier gibt es wirksame psychotherapeutische Behandlungen, die man hier der medikamentösen Behandlung vorzieht. Wir haben in der Schlafmedizin auch neue Erkenntnisse über das träumende Gehirn. Früher dachte man, dass Träume nur im REM Schlaf stattfinden, heute weiß man, dass sie die ganze Nacht stattfinden. Allerdings sind die Träume in den REM-Schlafphasen emotional eingefärbt und aus diesem Grunde kann man sich besser an diese Träume erinnern.

Zu welchen Maßnahmen raten sie betrieblichen Gesundheitsmanagern um die negativen Konsequenzen der manchmal unvermeidlichen Schichtarbeit einzudämmen?

Dr. Weeß: Jeder Mitarbeiter in einem Unternehmen erhält vor Beginn der Arbeit an einer gefährlichen Maschine oder an einem gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatz eine Sicherheitseinweisung. Laut der DGSM (Anm. d. Red.: Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin) dies ebenso der Fall sein, bevor Mitarbeitende in die gesundheitsgefährdende Schichtarbeit gehen. Schichtmitarbeitende sollten vor der Aufnahme von Schichtarbeit zu dem Thema Schichtarbeit und Schlaf im Rahmen der Primärprävention im BGM von schlafmedizinisch geschultem Personal eine entsprechende Schulung erhalten, welche über den Umgang mit Schichtarbeit in Bezug auf einen gesunden Schlaf vorbereitet. So ist es auch in der medizinischen Leitlinie zur Schichtarbeit empfohlen. Ebenso wird in dieser Leitlinie empfohlen, dass im BGM im Rahmen der Tertiärprävention Mitarbeitende mit Schlafstörungen entsprechende Angebote von schlafmedizinisch geschultem Personal erhalten sollen. Dies ist insbesondere der Tatsache geschuldet, dass sich hinter vermeintlich schichtbedingten Schlafstörungen auch andere schlafmedizinische Erkrankungen, wie z.B. eine Schlafapnoe oder ein Restless-Legs Syndrom oder organische Erkrankungen verbergen können.

Was raten sie Unternehmen, in denen Schichtarbeit keine Rolle spielt, zur Förderung der Schlafgesundheit der Mitarbeiter

Dr. Weeß: Bisher wurde das Thema Schlaf im BGM verschlafen. Wie ich aber oben bereits aufgeführt habe, ist gesunder Schlaf ein Wirtschaftsfaktor. Ausgeschlafene und schlafgesunde Mitarbeiter sind produktiver und haben statistisch gesehen kürzere Phasen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeiten. Darüber hinaus machen ausgeschlafene Mitarbeiter weniger Fehler und Unfälle. Gesunder Schlaf wirkt sich also auch auf die Arbeitssicherheit aus. Er fördert die Produktivität der Mitarbeiter und verhindert lange Phasen von krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Schlafmangel wird aber für viele Menschen durch den frühen Arbeitsbeginn gefördert. Chronobiologisch gesehen beginnen für viele Menschen Arbeit und Schule zu früh. 80 Prozent der bundesdeutschen stehen mit dem Wecker auf, d.h. sie beenden das wichtigste Regenerations- und Reperaturprogramm des Menschen vorzeitig, bevor es alle Aufgaben erledigt hat. Schläfrigkeit und erhöhte Gesundheitsrisiken sind die Folge. Arbeitgeber hätten Anspruch auf die beste Zeit Ihrer Mitarbeiter, wenn diese am leistungsfähigsten sind. Dafür bedarf es aber flexible Arbeitszeiten, wo immer möglich, so dass die Mitarbeiter ausgeschlafen und fit am Arbeitsplatz erscheinen können. Chronobiologisch gesehen gibt es in den frühen Nachmittagsstunden ein Leistungstief, das sogenannte Schnitzel- oder Suppenkoma. Es ist durch zahlreiche Studien belegt, dass ein kleiner Powernap, von 15-20 Minuten Dauer geeignet ist, dieses Leistungstief zu überwinden. Danach sind Mitarbeitende produktiver, kreativer und machen weniger Fehler. Darüber hinaus wird die Stimmung stabilisiert und man hält einen nervigen Vorgesetzten oder Kollegen viel besser aus. Auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sinkt. Weiterhin sind im Rahmen der Primärprävention im BGM Schulungsangebote für Mitarbeitende mit stärkeren Stressbelastungen zu empfehlen um stressbedingte Erkrankungen, psychische Störungen und vor allem auch Schlafstörungen zu verhindern.

Können Sie einen Ausblick in die Zukunft der Schlafmedizin geben? Welche Forschungsrichtungen und Technologien könnten in den kommenden Jahren eine größere Rolle spielen?

Dr. Weeß: Ich denke, dass wir durch die Entwicklung neuer Technologien zukünftig die Menschen in ihrer häuslichen Umgebung untersuchen werden können. Dafür ist es aber notwendig, dass medizintechnische Firmen sich der neuen Technologien noch stärker annehmen und diese auch wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit prüfen.

Dr. Weeß wird auf der besser schlafen über die Bedeutung des Themas Schlaf für Unternehmen referieren und ist spricht auf dem parallel stattfindenden Ärztecurriculum und Patientenforum der DGSM. Wir sagen vielen Dank für das Interview!

Dr. Hans-Günter Weeß ist seit über 25 Jahren in der Schlafforschung tätig. Als Leiter des Interdisziplinären Schlafzentrums am Pfalzklinikum Klingenmünster verfügt er über einen enormen Erfahrungsschatz in der Behandlung und Erforschung von Schlafstörungen. Als ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) setzt er sich aktiv für die Verbreitung des Wissens über Schlaf und Schlafstörungen in der Gesellschaft ein.
Als Dozent und Ausbilder im Bereich Schlafmedizin hat er mit seinem umfangreichen Fachwissen schon vielen Menschen zu einem besseren Schlaf verholfen.
Darüber hinaus ist Dr. Hans-Günter Weeß Autor von Fachbüchern und wissenschaftlichen Studien, die in Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Sein Buch "Die schlaflose Gesellschaft" und sein Werk "Schlaf wirkt Wunder - alles über das wichtigste Drittel des Lebens" sind populärwissenschaftliche Werke, die die Bedeutung des Schlafes für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen hervorheben.